Und
wenn der Mensch zu diesem inneren Wesen kommt, das die Essenz des
Menschen ausmacht, dann kommt er auch zu der Erfahrung Der
Vollkommenen Weisheit. Das kann man mit einem Kreisel vergleichen. Im
normalen Zustand befindet sich der Mensch sozusagen am Rande eines
Kreisels, der sich ständig dreht. Die ganze Zeit rasen
unterschiedlichste Objekte und Eindrücke an ihn vorbei, wobei er
nicht in der Lage ist, etwas zu verhindern und zu stoppen. Alles
dreht sich unendlich und er ist nicht in der Lage, etwas zu
beobachten. Aber wenn sich der Mensch im Zentrum des Kreisels
befindet, gibt es da die Achse, die bei jedem Kreisel unbeweglich
ist. Alles andere ist in Bewegung, aber die Achse befindet sich stets
an einer Stelle. Und wenn der Mensch sich im Zentrum des Kreises
befindet, ist er in der Lage, dessen beliebigen Punkt zu beobachten.
Jeden Punkt des Kreises kann er aus dem Zentrum sehen und ihn
objektiv bewerten, denn alle Punkte sind von ihm gleich entfernt.
Demzufolge kann er sich ein richtiges Bild des Geschehens machen.
Genauso
wie ein Mensch, der das Zentrum von sich selbst erreicht hat. Alles
Äußere um ihn herum - Gedanken, Gefühle, irgendwelche äußere
Aktivität - kann sich wie bisher drehen und flimmern, aber der
Mensch selbst befindet sich im Zentrum, im unveränderlichen und
immer ruhigen Zentrum. Deshalb ist er in der Lage jenes zu erblicken,
was tatsächlich geschieht, und richtige Schlüsse daraus ziehen. Das
heißt, von Der Weisheit ausgehend, vom eigenen tiefen Verständnis
ausgehend, kann er bereits richtige Schlüsse ziehen und seine
Erlebnisse richtig ausdrücken. Aus diesem Grund nennt man solche
Menschen Weise und deshalb werden ausgerechnet sie um Rat in
unterschiedlichsten Fragen gebeten. Weil sie, von Der Weisheit - von
diesem vollkommenen Wissen ausgehend, die Lage realistisch
einschätzen können.
Ich
frage mich, ob Weise aber jemandem zu helfen brauchen?
Wenn
ein Weiser so etwas brauchen würde, bedeute dies, dass der Weise von
einem anderen Mensch abhängig wäre, vom eigenen Wunsch zu helfen.
Zweifelsfrei wäre er in diesem Falle kein Weiser mehr. Das hieße,
dass seine Aufmerksamkeit nicht im eigenen Zentrum gesammelt wäre,
sondern auf etwas Äußerem. Folglich ist das kein Weiser. Deshalb
ist ein Weiser nicht auf etwas Äußerem innerlich gesammelt, er ist
ganz drinnen. Genauso ist er nicht vom Wunsch ergriffen, jemanden zu
helfen, oder von Darbringungen, die er dafür erhält. Wenn ein
Weiser innerlich gesammelt ist, kann er einen objektiven Ratschlag
geben.
Ist
es gut, Ratschläge zu geben?
Ein
Weiser gibt keine Ratschläge im herkömmlichen Sinne. Er
unterscheidet nicht in Gut und Böse, und versucht nicht, einen
Menschen zu etwas zu bewegen: er braucht das nicht. Das einzige, was
er tun kann, ist es, dem Menschen den Weg zu zeigen. Das heißt, ein
Weiser sagt: Wenn du so vorgehst, wirst du dieses Ergebnis bekommen,
wenn du anders vorgehst, wirst du ein anderes Ergebnis bekommen. Ab
hier ist es die Sache des Menschen selbst, wie er handelt wird.
Deshalb sagt ein Weiser nie: das ist gut und das ist schlecht. Er
sagt: wenn du so handelst, wirst du dieses Leben bekommen, wenn du
anders handelst, wirst du ein anderes Leben bekommen; und jetzt wähle
selbst, welches Leben du brauchst. Und ab da ist es die Angelegenheit
des Menschen, was er wählt. So geht ein Weiser vor: er mischt sich
nicht in das Leben des Menschen ein. Ja, er gibt dem Menschen
bestimmte Hilfe, jedoch ist dies nur die Sache des Menschen, ob er
diese Hilfe nutzt. Er kann sich einen Ratschlag vom Weisen holen,
aber alles umgekehrt tun. Wenn der Mensch ein bestimmtes Karma hat,
wird er sowieso diesem Karma entsprechend handeln, und kein Weiser
wird ihm an dieser Stelle helfen. Das bedeutet, dass es keinen Sinn
macht, Weise nach Ratschlägen im Hinblick auf irgendwelche äußere
Handlungen zu fragen. Besser ist es, das Wissen und die Kräfte der
Weisen dafür zu verwenden, um Fortschritte in spiritueller Praxis zu
erzielen. Nur dann wird es eine Antwort auf alle Fragen geben.
Moment
mal - das heißt aber doch, dass ich selbst weise bin! Ich kann auch
einem Menschen mit Hilfe von Karten beliebige Situationen erklären.
Hier
liegt der Unterschied darin, ob dabei das vollkommene Wissen - Die
Vollkommene Weisheit - oder ein partielles Wissen verwendet wird.
Wenn
ich mir aber einen Menschen anschaue, kenne ich hundertprozentig alle
seine Schritte. Beispielsweise weiß ich, wo er stolpern wird.
Aber
du kennst nur die Pathologie des Menschen. Du kennst alle Schritte
eines kranken, ungesunden Menschen. Ob du jedoch weißt, wie das
alles in der Tat sein müsste?
In
der Regel weiß ich das.
Und
woher kannst du wissen, wie ein Mensch handelt müsste?
Ich
sehe einen Menschen als Ganzes, ich sehe seine Situation als Ganzes.
Ich erzähle alle Varianten dessen, wie er handeln kann. Und in der
Regel muss er anders handeln als er gewohnt ist.
Du
gibst Antworten, indem du dich auf äußere Handlungen der Menschen
orientierst.
Nein,
wieso denn? Ich orientiere mich auf das Innere.
Tatsächlich
haben alle Handlungen der Menschen einen inneren, spirituellen
Ursprung. Als innerlich bezeichne ich etwa nicht das, was mit
Gedanken und Gefühlen zu tun hat - dies ist das Äußere. Und sogar
das, was mit Karma zu tun hat, zählt auch zum Äußeren. Nur das,
was zum Geist zählt, stellt Inneres dar. Jegliche
Vorherbestimmtheiten jedoch sind - bezüglich eines Menschen - nur
Äußeres. Deshalb sind mentale Ideen, mit denen der Mensch gefüllt
ist, jene Gefühle und Emotionen, die in ihm entstehen - all das ist
Äußeres. Wenn der Mensch zu spiritueller Praxis kommt, kann dies
alles in derselben Sekunde zusammenbrechen. Dann kann sich jede
Prognose, welche dem Menschen gegeben wurde, vollständig und
unumkehrbar ändern. Und keiner wird je sagen können, wann das
passieren wird. Deshalb darf man sich hinsichtlich eines Menschen
nicht so kategorisch äußern. Nur vom Inneren, von spirituellen
Ursachen ausgehend, kann man sagen, wie es tatsächlich sein wird.
Sogar das Karma... Denn dies ist auch eine Vorherbestimmtheit, es
zwingt Menschen sehr hart, auf eine bestimmte Art und Weise zu
handeln. Aber der Mensch kann sich in jeder Sekunde ändern und dann
wird der ganze karmische Fluss seinen Sinn verlieren. Er kann einem
vollkommen anderen Karma entsprechend handeln oder sich außerhalb
des Karmas bewegen, wenn er anfangen wird, sich mit spiritueller
Praxis zu beschäftigen.
Jedes
Kartenlesen funktioniert, es funktioniert jedoch nur bedingt, denn es
berücksichtigt nicht das Innere. In dem Moment, in dem der Mensch
mit Der Weisheit zu tun bekommt, kann sich alles ändern. Es ist
nicht wichtig, welche Der Fünf Quellen Der Weisheit der Mensch
treffen wird. [2] Wenn
dies jedoch passieren wird, wird sich in seinem Leben buchstäblich
alles ändern können. Aber bis zu diesem Moment werden alle
Prognosen gelten, die mit Hilfe der Karten gemacht werden, weil der
Mensch sowieso einer festen Vorherbestimmtheit entsprechend handeln
wird. Deshalb, wenn ein Mensch nicht vorherbestimmt ist, spiritueller
Praxis oder irgendeiner Lehre zu folgen, wird er dem auch nicht
folgen. Wenn der Mensch eine karmische Verbindung mit einem der
Lehrer hat, wird er höchst wahrscheinlich diesen Lehrer treffen und
praktizieren. Dennoch kann sich alles ändern, wenn der Mensch
beginnt zu praktizieren, wenn er eine beliebige Quelle Der
Vollkommenen Weisheit trifft. Falls der Mensch selbst - plötzlich,
irgendwann - das Verstehen Der Weisheit erlangen wird, kann es sein,
dass er sich mit einem bestimmten Lehrer nicht treffen wollen wird:
er wird dies einfach nicht brauchen. Das heißt, dass sogar eine
derart starke karmische Verbindung verschwinden kann und dazu noch in
einem beliebigen Moment und ganz augenblicklich.
Genauso
kann ein Mensch, welcher plötzlich Die Vollkommene Weisheit
erblickt, absolut unlogisch und unvorhersehbar sogar für sich selbst
handeln, das heißt, eine ganz andere, ungewöhnliche Lösung wählen.
Und keiner kann hier sagen, wann dies passieren und sogar wie lange
das dauern wird. Der Mensch kann in irgendeinem Moment Die Weisheit
besitzen, er kann sie aber auch verlieren. Deshalb stellt ein
spiritueller Zustand keinen Titel dar und er wird nicht auf
Lebenszeit verliehen. Man kann ihn besitzen und auch verlieren.
Spirituelle
Praxis und Zustände in spirituellen Praktiken werden oft mit einem
Strom verglichen - mit einem Strom, der ununterbrochen fließt. So
kann man auch sagen, dass Die Weisheit ein ununterbrochener Strom des
höheren Wissens (Des Vollkommenen Wissens) und Der Vollkommenen
Kraft ist, in dem sich der Mensch stetig befindet. Weil der Strom
eben niemals austrocknet, wird er Die Weisheit genannt. Und dies
unterscheidet Die Vollkommene Weisheit von den davor liegenden Stufen
der spirituellen Entwicklung - dem Samadhi- und dem
Gleichgewichtsniveau. Weil der Mensch von diesen Stufen abstützen
und den Gleichgewichtszustand verlieren kann. Der Mensch kann sich
lange in diesem Zustand befinden, er kann sich stetig in Reihenfolgen
dieser Zustände befinden, kann sie aber auch verlieren und zum
Zustand eines normalen Menschen zurückkehren. Wenn sich jedoch ein
Praktizierender auf dem Niveau Der Weisheit befindet, bedeutet dies,
dass er aus diesem Zustand nie zurückkehren wird: er wird für immer
da bleiben. Darin liegen die Unterschiede zwischen diesen Niveaus.
Eine
Zeit lang befand ich mich in vollständigem Gleichgewicht. An den
Orten, wo ich auftauchte, fühlten Menschen diesen Zustand und
tauchten darin ein, wie in einen Strom. Dann war das aber plötzlich
weg... Dabei habe ich keine Meditation praktiziert. Ja, ich habe mich
bemüht, ich habe mich mit diversen Techniken beschäftigt, mit
Fasten... Aber ich hatte keinen Lehrer.
Eben
aus diesem Grund ist der Zustand auch verlorengegangen - weil eine
regelmäßige Praxis gefehlt hat. In der Tat, wenn ein Mensch eine
beliebige Der Fünf Quellen Der Weisheit trifft, kann er zu diesem
Zustand kommen. Lehrer stellt nur eine Der Quellen dar - es kann auch
andere geben. Und der Mensch kann tatsächlich in den Besitz Der
Weisheit kommen und sie beliebig lange erleben. Weil der Zustand
jedoch nicht durch die Praxis herbeigeführt worden ist, hat er kein
Fundament. Deswegen fällt der Mensch früh oder später aus ihm
heraus. Deswegen, wenn der Mensch nicht praktiziert, wird er nicht
auf das Niveau Der Weisheit kommen können. Er wird zu spontaner
Erfahrung eines Zustands beliebiger Stufe kommen können, außer der
Stufe Der Weisheit - der Stufe des stetigen Wissensstroms.
Nur
spirituelle Praxis - regelmäßige spirituelle Praxis - gibt dem
Menschen eine solche Möglichkeit. Alles andere gibt ihm keine solche
Möglichkeit. Wenn die Praxis nicht regelmäßig abläuft, wird der
Mensch nicht das Niveau Der Weisheit erreichen können. Wenn eine Der
Drei Bedingungen Der Übertragung [3]
nicht eingehalten wird,
beispielsweise praktiziert der Mensch nicht in einer angesehenen
Tradition, wird er auch nicht zum Niveau Der Weisheit kommen. Ihm
kann ein Kraftstrom gegeben werden, ein Klumpen des Wissens, da
dieses Wissen jedoch nicht vollkommen und vollständig ist, wird der
Mensch keinen ausreichenden Stoß bekommen können, um zu diesem
Zustand zu kommen. Wenn der Übertragende selbst nicht über
ausreichend hohe spirituelle Erfahrung verfügt, wird er den Zustand
des Schülers nicht richtig einschätzen und keine richtige
Empfehlungen in der Praxis geben können. Seine Empfehlungen und
Ratschläge werden nur partiell sein, ohne umfassende
Berücksichtigung der Lage. Und dann wird sich der Schüler unter
Anleitung eines solchen unechten Lehrers nicht erfolgreich entwickeln
können.
Wenn
die Praxis nicht regelmäßig ist,
bedeutet dies, dass nicht genügend Kraft in die Vertiefung und
Erweiterung des Zustands täglich investiert wird, und folglich wird
der Mensch den Zustand verlieren. Wenn die Praxis nicht im Alltag,
sondern unter irgendwelchen künstlichen Bedingungen verläuft, wird
der Mensch bei einer Änderung der Lebensweise alle Früchte der
Praxis augenblicklich verlieren, die er kultiviert hat. Wenn der
Mensch einen Zustand außerhalb der Praxis erhalten hat, außerhalb
Der Lehre, bedeutet dies nur eins: er hat keine Kontrolle über die
Situation. Der Zustand ist zum Menschen gekommen und der Mensch
besitzt den Zustand. Deshalb, wenn es dem Zustand gerade passen wird,
wird er den Menschen verlassen und das wird vom Menschen gar nicht
abhängen. Dies stellt eine unvollständige Kontrolle über die
Situation dar und kann nicht als Weisheit gelten. Die Weisheit ist
daher, wenn der Mensch die Situation vollständig kontrolliert.
Und
zweifellos, wenn der Mensch einen hohen spirituellen Zustand besitzt,
werden die anderen das fühlen. Warum? Weil er in diesem Falle eine
größere Kontrolle-der-Situation hat als die anderen. Oft muss ein
Mensch, der einen spirituellen Zustand besitzt, sich gar nicht aktiv
ins Geschehen einmischen. Man kann einfach irgendwo anwesend sein,
einfach schweigen - und die anderen dadurch in eine Situation der
Abhängigkeit von sich selbst bringen. Und die Anwesenden werden das
sofort fühlen. Darüber hinaus werden sie dem Einfluss dieses
Zustands ausgesetzt sein, sie werden nicht in der Lage sein, sich dem
Zustand zu entziehen. Sie werden nur zwei Auswege haben: entweder
sich dem Zustand vollkommen unterzuordnen und dementsprechend zu
handeln oder diese Situationen einfach zu meiden. Aber sie werden die
Situationen nicht umgestalten können: um die Situation umgestalten
zu können, ist noch größere Kraft, noch größeres Wissen
erforderlich als dieser spirituelle Zustand.
Aber
wieso haben manche Menschen das nicht gemocht, wieso wollten sie
immer etwas kaputtmachen? Wieso waren sie so neidisch?
Das
stößt oft den Menschen zu, welche mit spiritueller Praxis anfangen
oder einfach irgendwelche spirituelle Zustände erleben. Weil sie
anfangen, sich dadurch der Kontrolle ihrer Mitmenschen zu entziehen:
sie fangen an, nicht entsprechend der Meinung dieser Personen zu
handeln, und hören auf, sich deren Logik zu unterstellen. Die
anderen fühlen sofort, dass sie Kontrolle über solche Menschen
verlieren, dass sie nicht in der Lage sind, sie in die Rahmen
üblicher Stereotypen, üblicher Logik hineinzuzwängen. Dass sie
nicht in der Lage sind, sie zu zwingen, gemäß eigener
voreingenommener Meinung oder eigener Gefühle zu handeln. Und an
dieser Stelle bekommen sie Angst und den Wunsch, sich zu schützen.
Schützen können sie sich jedoch auf nur eine Weise - dem Ikarus
Flügel zu kürzen, sprich den Menschen in den herkömmlichen Zustand
zurückzuholen, in welchem man ihn kontrollieren kann.
[2]
Fünf Quellen Der Weisheit: (a) Der Lehrer, (b) ganzheitliche
Versenkung in eine Handlung, (c) Orgasmus, (d) Atemstillstand, (e)
Gedankenstillstand.
[3]
Die Drei Bedingungen Der Übertragung des spirituellen Wissens: (i)
Angesehenheit der Tradition, (ii) Vorhandensein entsprechender
Erfahrungen beim Übertragenden, (iii) gleiche Verantwortung bei der
Ausbildung.
Copyright © 2013 Sergey Bugaev und Vladimir Kuzin. Alle Rechte vorbehalten.
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