Sonntag, 26. Januar 2014

Ein Dialog über Die Weisheit (3): Vollkommene Weisheit und spirituelle Zustände

Und wenn der Mensch zu diesem inneren Wesen kommt, das die Essenz des Menschen ausmacht, dann kommt er auch zu der Erfahrung Der Vollkommenen Weisheit. Das kann man mit einem Kreisel vergleichen. Im normalen Zustand befindet sich der Mensch sozusagen am Rande eines Kreisels, der sich ständig dreht. Die ganze Zeit rasen unterschiedlichste Objekte und Eindrücke an ihn vorbei, wobei er nicht in der Lage ist, etwas zu verhindern und zu stoppen. Alles dreht sich unendlich und er ist nicht in der Lage, etwas zu beobachten. Aber wenn sich der Mensch im Zentrum des Kreisels befindet, gibt es da die Achse, die bei jedem Kreisel unbeweglich ist. Alles andere ist in Bewegung, aber die Achse befindet sich stets an einer Stelle. Und wenn der Mensch sich im Zentrum des Kreises befindet, ist er in der Lage, dessen beliebigen Punkt zu beobachten. Jeden Punkt des Kreises kann er aus dem Zentrum sehen und ihn objektiv bewerten, denn alle Punkte sind von ihm gleich entfernt. Demzufolge kann er sich ein richtiges Bild des Geschehens machen. 

 
Genauso wie ein Mensch, der das Zentrum von sich selbst erreicht hat. Alles Äußere um ihn herum - Gedanken, Gefühle, irgendwelche äußere Aktivität - kann sich wie bisher drehen und flimmern, aber der Mensch selbst befindet sich im Zentrum, im unveränderlichen und immer ruhigen Zentrum. Deshalb ist er in der Lage jenes zu erblicken, was tatsächlich geschieht, und richtige Schlüsse daraus ziehen. Das heißt, von Der Weisheit ausgehend, vom eigenen tiefen Verständnis ausgehend, kann er bereits richtige Schlüsse ziehen und seine Erlebnisse richtig ausdrücken. Aus diesem Grund nennt man solche Menschen Weise und deshalb werden ausgerechnet sie um Rat in unterschiedlichsten Fragen gebeten. Weil sie, von Der Weisheit - von diesem vollkommenen Wissen ausgehend, die Lage realistisch einschätzen können.

Ich frage mich, ob Weise aber jemandem zu helfen brauchen?

Wenn ein Weiser so etwas brauchen würde, bedeute dies, dass der Weise von einem anderen Mensch abhängig wäre, vom eigenen Wunsch zu helfen. Zweifelsfrei wäre er in diesem Falle kein Weiser mehr. Das hieße, dass seine Aufmerksamkeit nicht im eigenen Zentrum gesammelt wäre, sondern auf etwas Äußerem. Folglich ist das kein Weiser. Deshalb ist ein Weiser nicht auf etwas Äußerem innerlich gesammelt, er ist ganz drinnen. Genauso ist er nicht vom Wunsch ergriffen, jemanden zu helfen, oder von Darbringungen, die er dafür erhält. Wenn ein Weiser innerlich gesammelt ist, kann er einen objektiven Ratschlag geben.

Ist es gut, Ratschläge zu geben?

Ein Weiser gibt keine Ratschläge im herkömmlichen Sinne. Er unterscheidet nicht in Gut und Böse, und versucht nicht, einen Menschen zu etwas zu bewegen: er braucht das nicht. Das einzige, was er tun kann, ist es, dem Menschen den Weg zu zeigen. Das heißt, ein Weiser sagt: Wenn du so vorgehst, wirst du dieses Ergebnis bekommen, wenn du anders vorgehst, wirst du ein anderes Ergebnis bekommen. Ab hier ist es die Sache des Menschen selbst, wie er handelt wird. Deshalb sagt ein Weiser nie: das ist gut und das ist schlecht. Er sagt: wenn du so handelst, wirst du dieses Leben bekommen, wenn du anders handelst, wirst du ein anderes Leben bekommen; und jetzt wähle selbst, welches Leben du brauchst. Und ab da ist es die Angelegenheit des Menschen, was er wählt. So geht ein Weiser vor: er mischt sich nicht in das Leben des Menschen ein. Ja, er gibt dem Menschen bestimmte Hilfe, jedoch ist dies nur die Sache des Menschen, ob er diese Hilfe nutzt. Er kann sich einen Ratschlag vom Weisen holen, aber alles umgekehrt tun. Wenn der Mensch ein bestimmtes Karma hat, wird er sowieso diesem Karma entsprechend handeln, und kein Weiser wird ihm an dieser Stelle helfen. Das bedeutet, dass es keinen Sinn macht, Weise nach Ratschlägen im Hinblick auf irgendwelche äußere Handlungen zu fragen. Besser ist es, das Wissen und die Kräfte der Weisen dafür zu verwenden, um Fortschritte in spiritueller Praxis zu erzielen. Nur dann wird es eine Antwort auf alle Fragen geben.

Moment mal - das heißt aber doch, dass ich selbst weise bin! Ich kann auch einem Menschen mit Hilfe von Karten beliebige Situationen erklären.

Hier liegt der Unterschied darin, ob dabei das vollkommene Wissen - Die Vollkommene Weisheit - oder ein partielles Wissen verwendet wird.

Wenn ich mir aber einen Menschen anschaue, kenne ich hundertprozentig alle seine Schritte. Beispielsweise weiß ich, wo er stolpern wird.

Aber du kennst nur die Pathologie des Menschen. Du kennst alle Schritte eines kranken, ungesunden Menschen. Ob du jedoch weißt, wie das alles in der Tat sein müsste?

In der Regel weiß ich das.

Und woher kannst du wissen, wie ein Mensch handelt müsste?

Ich sehe einen Menschen als Ganzes, ich sehe seine Situation als Ganzes. Ich erzähle alle Varianten dessen, wie er handeln kann. Und in der Regel muss er anders handeln als er gewohnt ist.

Du gibst Antworten, indem du dich auf äußere Handlungen der Menschen orientierst.

Nein, wieso denn? Ich orientiere mich auf das Innere.

Tatsächlich haben alle Handlungen der Menschen einen inneren, spirituellen Ursprung. Als innerlich bezeichne ich etwa nicht das, was mit Gedanken und Gefühlen zu tun hat - dies ist das Äußere. Und sogar das, was mit Karma zu tun hat, zählt auch zum Äußeren. Nur das, was zum Geist zählt, stellt Inneres dar. Jegliche Vorherbestimmtheiten jedoch sind - bezüglich eines Menschen - nur Äußeres. Deshalb sind mentale Ideen, mit denen der Mensch gefüllt ist, jene Gefühle und Emotionen, die in ihm entstehen - all das ist Äußeres. Wenn der Mensch zu spiritueller Praxis kommt, kann dies alles in derselben Sekunde zusammenbrechen. Dann kann sich jede Prognose, welche dem Menschen gegeben wurde, vollständig und unumkehrbar ändern. Und keiner wird je sagen können, wann das passieren wird. Deshalb darf man sich hinsichtlich eines Menschen nicht so kategorisch äußern. Nur vom Inneren, von spirituellen Ursachen ausgehend, kann man sagen, wie es tatsächlich sein wird. Sogar das Karma... Denn dies ist auch eine Vorherbestimmtheit, es zwingt Menschen sehr hart, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln. Aber der Mensch kann sich in jeder Sekunde ändern und dann wird der ganze karmische Fluss seinen Sinn verlieren. Er kann einem vollkommen anderen Karma entsprechend handeln oder sich außerhalb des Karmas bewegen, wenn er anfangen wird, sich mit spiritueller Praxis zu beschäftigen.

Jedes Kartenlesen funktioniert, es funktioniert jedoch nur bedingt, denn es berücksichtigt nicht das Innere. In dem Moment, in dem der Mensch mit Der Weisheit zu tun bekommt, kann sich alles ändern. Es ist nicht wichtig, welche Der Fünf Quellen Der Weisheit der Mensch treffen wird. [2] Wenn dies jedoch passieren wird, wird sich in seinem Leben buchstäblich alles ändern können. Aber bis zu diesem Moment werden alle Prognosen gelten, die mit Hilfe der Karten gemacht werden, weil der Mensch sowieso einer festen Vorherbestimmtheit entsprechend handeln wird. Deshalb, wenn ein Mensch nicht vorherbestimmt ist, spiritueller Praxis oder irgendeiner Lehre zu folgen, wird er dem auch nicht folgen. Wenn der Mensch eine karmische Verbindung mit einem der Lehrer hat, wird er höchst wahrscheinlich diesen Lehrer treffen und praktizieren. Dennoch kann sich alles ändern, wenn der Mensch beginnt zu praktizieren, wenn er eine beliebige Quelle Der Vollkommenen Weisheit trifft. Falls der Mensch selbst - plötzlich, irgendwann - das Verstehen Der Weisheit erlangen wird, kann es sein, dass er sich mit einem bestimmten Lehrer nicht treffen wollen wird: er wird dies einfach nicht brauchen. Das heißt, dass sogar eine derart starke karmische Verbindung verschwinden kann und dazu noch in einem beliebigen Moment und ganz augenblicklich.

Genauso kann ein Mensch, welcher plötzlich Die Vollkommene Weisheit erblickt, absolut unlogisch und unvorhersehbar sogar für sich selbst handeln, das heißt, eine ganz andere, ungewöhnliche Lösung wählen. Und keiner kann hier sagen, wann dies passieren und sogar wie lange das dauern wird. Der Mensch kann in irgendeinem Moment Die Weisheit besitzen, er kann sie aber auch verlieren. Deshalb stellt ein spiritueller Zustand keinen Titel dar und er wird nicht auf Lebenszeit verliehen. Man kann ihn besitzen und auch verlieren.

Spirituelle Praxis und Zustände in spirituellen Praktiken werden oft mit einem Strom verglichen - mit einem Strom, der ununterbrochen fließt. So kann man auch sagen, dass Die Weisheit ein ununterbrochener Strom des höheren Wissens (Des Vollkommenen Wissens) und Der Vollkommenen Kraft ist, in dem sich der Mensch stetig befindet. Weil der Strom eben niemals austrocknet, wird er Die Weisheit genannt. Und dies unterscheidet Die Vollkommene Weisheit von den davor liegenden Stufen der spirituellen Entwicklung - dem Samadhi- und dem Gleichgewichtsniveau. Weil der Mensch von diesen Stufen abstützen und den Gleichgewichtszustand verlieren kann. Der Mensch kann sich lange in diesem Zustand befinden, er kann sich stetig in Reihenfolgen dieser Zustände befinden, kann sie aber auch verlieren und zum Zustand eines normalen Menschen zurückkehren. Wenn sich jedoch ein Praktizierender auf dem Niveau Der Weisheit befindet, bedeutet dies, dass er aus diesem Zustand nie zurückkehren wird: er wird für immer da bleiben. Darin liegen die Unterschiede zwischen diesen Niveaus.

Eine Zeit lang befand ich mich in vollständigem Gleichgewicht. An den Orten, wo ich auftauchte, fühlten Menschen diesen Zustand und tauchten darin ein, wie in einen Strom. Dann war das aber plötzlich weg... Dabei habe ich keine Meditation praktiziert. Ja, ich habe mich bemüht, ich habe mich mit diversen Techniken beschäftigt, mit Fasten... Aber ich hatte keinen Lehrer.

Eben aus diesem Grund ist der Zustand auch verlorengegangen - weil eine regelmäßige Praxis gefehlt hat. In der Tat, wenn ein Mensch eine beliebige Der Fünf Quellen Der Weisheit trifft, kann er zu diesem Zustand kommen. Lehrer stellt nur eine Der Quellen dar - es kann auch andere geben. Und der Mensch kann tatsächlich in den Besitz Der Weisheit kommen und sie beliebig lange erleben. Weil der Zustand jedoch nicht durch die Praxis herbeigeführt worden ist, hat er kein Fundament. Deswegen fällt der Mensch früh oder später aus ihm heraus. Deswegen, wenn der Mensch nicht praktiziert, wird er nicht auf das Niveau Der Weisheit kommen können. Er wird zu spontaner Erfahrung eines Zustands beliebiger Stufe kommen können, außer der Stufe Der Weisheit - der Stufe des stetigen Wissensstroms.

Nur spirituelle Praxis - regelmäßige spirituelle Praxis - gibt dem Menschen eine solche Möglichkeit. Alles andere gibt ihm keine solche Möglichkeit. Wenn die Praxis nicht regelmäßig abläuft, wird der Mensch nicht das Niveau Der Weisheit erreichen können. Wenn eine Der Drei Bedingungen Der Übertragung [3] nicht eingehalten wird, beispielsweise praktiziert der Mensch nicht in einer angesehenen Tradition, wird er auch nicht zum Niveau Der Weisheit kommen. Ihm kann ein Kraftstrom gegeben werden, ein Klumpen des Wissens, da dieses Wissen jedoch nicht vollkommen und vollständig ist, wird der Mensch keinen ausreichenden Stoß bekommen können, um zu diesem Zustand zu kommen. Wenn der Übertragende selbst nicht über ausreichend hohe spirituelle Erfahrung verfügt, wird er den Zustand des Schülers nicht richtig einschätzen und keine richtige Empfehlungen in der Praxis geben können. Seine Empfehlungen und Ratschläge werden nur partiell sein, ohne umfassende Berücksichtigung der Lage. Und dann wird sich der Schüler unter Anleitung eines solchen unechten Lehrers nicht erfolgreich entwickeln können.

Wenn die Praxis nicht regelmäßig ist, bedeutet dies, dass nicht genügend Kraft in die Vertiefung und Erweiterung des Zustands täglich investiert wird, und folglich wird der Mensch den Zustand verlieren. Wenn die Praxis nicht im Alltag, sondern unter irgendwelchen künstlichen Bedingungen verläuft, wird der Mensch bei einer Änderung der Lebensweise alle Früchte der Praxis augenblicklich verlieren, die er kultiviert hat. Wenn der Mensch einen Zustand außerhalb der Praxis erhalten hat, außerhalb Der Lehre, bedeutet dies nur eins: er hat keine Kontrolle über die Situation. Der Zustand ist zum Menschen gekommen und der Mensch besitzt den Zustand. Deshalb, wenn es dem Zustand gerade passen wird, wird er den Menschen verlassen und das wird vom Menschen gar nicht abhängen. Dies stellt eine unvollständige Kontrolle über die Situation dar und kann nicht als Weisheit gelten. Die Weisheit ist daher, wenn der Mensch die Situation vollständig kontrolliert.

Und zweifellos, wenn der Mensch einen hohen spirituellen Zustand besitzt, werden die anderen das fühlen. Warum? Weil er in diesem Falle eine größere Kontrolle-der-Situation hat als die anderen. Oft muss ein Mensch, der einen spirituellen Zustand besitzt, sich gar nicht aktiv ins Geschehen einmischen. Man kann einfach irgendwo anwesend sein, einfach schweigen - und die anderen dadurch in eine Situation der Abhängigkeit von sich selbst bringen. Und die Anwesenden werden das sofort fühlen. Darüber hinaus werden sie dem Einfluss dieses Zustands ausgesetzt sein, sie werden nicht in der Lage sein, sich dem Zustand zu entziehen. Sie werden nur zwei Auswege haben: entweder sich dem Zustand vollkommen unterzuordnen und dementsprechend zu handeln oder diese Situationen einfach zu meiden. Aber sie werden die Situationen nicht umgestalten können: um die Situation umgestalten zu können, ist noch größere Kraft, noch größeres Wissen erforderlich als dieser spirituelle Zustand.

Aber wieso haben manche Menschen das nicht gemocht, wieso wollten sie immer etwas kaputtmachen? Wieso waren sie so neidisch?

Das stößt oft den Menschen zu, welche mit spiritueller Praxis anfangen oder einfach irgendwelche spirituelle Zustände erleben. Weil sie anfangen, sich dadurch der Kontrolle ihrer Mitmenschen zu entziehen: sie fangen an, nicht entsprechend der Meinung dieser Personen zu handeln, und hören auf, sich deren Logik zu unterstellen. Die anderen fühlen sofort, dass sie Kontrolle über solche Menschen verlieren, dass sie nicht in der Lage sind, sie in die Rahmen üblicher Stereotypen, üblicher Logik hineinzuzwängen. Dass sie nicht in der Lage sind, sie zu zwingen, gemäß eigener voreingenommener Meinung oder eigener Gefühle zu handeln. Und an dieser Stelle bekommen sie Angst und den Wunsch, sich zu schützen. Schützen können sie sich jedoch auf nur eine Weise - dem Ikarus Flügel zu kürzen, sprich den Menschen in den herkömmlichen Zustand zurückzuholen, in welchem man ihn kontrollieren kann.

[2] Fünf Quellen Der Weisheit: (a) Der Lehrer, (b) ganzheitliche Versenkung in eine Handlung, (c) Orgasmus, (d) Atemstillstand, (e) Gedankenstillstand.

[3] Die Drei Bedingungen Der Übertragung des spirituellen Wissens: (i) Angesehenheit der Tradition, (ii) Vorhandensein entsprechender Erfahrungen beim Übertragenden, (iii) gleiche Verantwortung bei der Ausbildung.

Copyright © 2013 Sergey Bugaev und Vladimir Kuzin. Alle Rechte vorbehalten.

 

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