Die innere Sammlung ist Der
zweite wichtige Pfeiler in der Praxis. Die meisten
Schicksalswendungen, die man als fatal und unumkehrbar bezeichnet,
geschehen nur, weil man nicht innerlich gesammelt ist.
Die Menschen sind nicht
ganzheitlich in ihren Handlungen. Der Mensch kann etwas versprechen
und das Wort nicht halten. Der Mensch kann etwas anfangen und nicht
zum Abschluss bringen. Der Mensch kann einen Entschluss fassen und
ihn nicht umsetzen. Das alles zerrt jedoch an den Kräften. Der
Mensch steckt eine gewisse Menge an Energie, Aufmerksamkeit und Zeit
in seine Handlungen, in seine Entschlüsse und setzt sie dann nicht
um. Das heißt, dass alles umsonst verloren geht. Und so lange, bis
der Mensch seine Entschlüsse nicht umsetzt, nicht verwirklicht, wird
die Energie versickern. Und jeder Mensch hat eine Vielzahl solcher
Löcher, in denen all seine Kraft und Energie verschwindet.
Der Mensch kann beliebig lange
vor der Entschlussfassung zweifeln. Wenn der Entschluss jedoch
gefasst ist, muss er bis zum Ende in die Tat umgesetzt werden.
Niemand zwingt den Menschen
einen Entschluss zu treffen. Selbst wenn man sagt, "die Umstände
zwingen" oder "jemand hat mich dazu gezwungen",
bedeutet es nur, dass der Mensch sich damit einverstanden erklärt
hat. Man kann seine Zustimmung passiv äußern, indem man einfach
schweigt - und das wird auch Zustimmung sein. Manchmal lässt man
sich auf einen Konflikt ein, indem man sagt, dass man dazu gezwungen
wurde - und das wird aktive Zustimmung sein. Der Mensch hat
zugelassen, dass man mit ihm in einem solchen Ton redet und hat
begonnen selbst in diesem Ton zu reden. Das heißt, er hat es
zugelassen, dass er so behandelt wird.
Wenn der Mensch jedoch anders zu
handeln beginnt, zu handeln nach seinen eigenen Regeln, ohne sich
einem fremden Spiel unterzuordnen, wird man einen solchen Menschen
nicht manipulieren können.
Aber dafür braucht man die
innere Sammlung. Der Mensch muss in seinem Leben aufmerksam sein. Er
muss fühlen, wie jemand oder etwas ihn vereinnahmen will. Er darf
die Zweifel anderer Menschen nicht in sich lassen. Sobald er merkt,
dass da jemand durch eine Entscheidung ihn zu beeinflussen versucht,
sollte er das sofort verwerfen. Er sollte sich nur von seiner eigenen
Meinung leiten lassen, von der eigenen inneren Stimme - und diese
Stimme, sie wird immer da sein.
Der Mensch muss zweifelsohne die
Meinung der anderen beachten. Er muss sie berücksichtigen, weil er
in der Gesellschaft lebt. Aber der Mensch muss nicht ihr entsprechend
handeln. Er kann die Informationen von anderen aufnehmen, ihre
Interessen, Gefühle berücksichtigen. Aber er muss seinen eigenen
Entschluss fassen.
Und erst dann wird er selbst
glücklich sein können. Und nur wenn er selbst glücklich ist, gibt
es eine Chance, dass er auch anderen helfen wird.
Andernfalls ist es wie ein
Teufelskreis, bestehend aus einer Gesellschaft unglücklicher
Individuen. Wie der Begründer der Psychoanalyse Freud sagte: "Meine
Wissenschaft ist in der Lage anormal unglückliche Menschen normal
unglücklich zu machen". Das ist alles, was die moderne
Psychoanalyse leisten kann.
Daher braucht der Mensch inneres
Gesammeltsein. Wenn der Mensch dauerhaft innerlich gesammelt ist,
gibt es für ihn keine Dinge, die wichtig und unwichtig sind, die
überflüssig und nicht überflüssig sind, es gibt nichts Gutes und
Böses. Nur ein solcher Mensch ist in der Lage, einen richtigen und
ausgewogenen Entschluss zu fassen. Ohne sich dabei von irgendwelchen
augenblicklichen Emotionen, Stimmungen oder einer fremden Meinung
beeinflussen zu lassen. Ein solcher Mensch wird nur seine eigene
Meinung, seine eigenen Einschätzung zugrunde legen.
Denn viele Menschen lassen sich
von Information leiten, die sie entweder von Freunden oder
Verwandten, also von ihren Respektpersonen, oder aus der Presse
beziehen. Doch alle Information aus der Presse ist immer in gewisser
Hinsicht ideologisch vorbelastet.
Das konnte man sogar während
des bewaffneten Konflikts in Tschetschenien beobachten. Schaut man
eine Fernsehsendung aus Ostankino, wurden die Geschehnisse auf eine
Art dargestellt. Schaltete man anschließend auf einen ukrainischen
Kanal, so wurde alles völlig anders dargestellt. Das heißt,
Russland sagt, dass es siegt und dass es ihm gut geht. Und die
Ukraine berichtet das Gegenteil: alles schlecht und Russland
verliert. In jedem Fall bieten die Massenmedien keine objektive
Einschätzung der Lage an. Sie sind immer bestrebt, ihre eigenen
Akzente zu setzen.
Sind Zeitungen, Zeitschriften
und Fernsehkanäle kommerziell, verbreiten sie die Moral der
sogenannten Marktwirtschaft. So hat jede soziale Gruppe, zum Beispiel
eine Religionsgruppe, ihre eigene Moral. Und jeder ist bestrebt,
seine eigene Meinung, seine eigene Sichtweise aufzudrängen. Alle
Journalisten befinden sich ja auch unter dem Einfluss irgendwelcher
Emotionen, Gefühle. Und sie drängen anderen Menschen ihre Meinung
auf.
Und man liest in einer Zeitung
oder in einer Zeitschrift, dass ein bestimmter Mensch schlecht ist,
weil er dies und jenes macht. So beginnt man ebenfalls so denken.
Obwohl man den Menschen womöglich nie im Leben gesehen hat und nie
sehen wird. Jedoch "weiß" er bereits, dass der da gut ist
und der da böse. Weil in einer Zeitung so berichtet wurde.
Das trat insbesondere früher
zutage, als es die sogenannte kommunistische Moral gegeben hatte.
Damals wurden die gleichen Ereignisse hier und im Westen
unterschiedlich dargestellt. Viele Menschen meinten, sie hätten an
den Kommunismus geglaubt, hätten die Parolen aufrichtig wiederholt.
Das sei deren Leben gewesen. Überall wurde so berichtet, für die
Menschen war das eine Religion. Lenin war deren Gott, an die
kommunistischen Ideale hat jeder geglaubt, obwohl sie meistens nicht
verstanden wurden.
Jetzt, nachdem die Ideale
gefallen sind, befinden sich viele in einer spirituellen Leere, die
Religion ist ihnen abhanden gegangen. Das Christentum können viele
nicht annehmen, weil man im Christentum keine würdigen Lehrer zu
finden glaubt. Andere Religionen sind für die Menschen
möglicherweise fremd, in kultureller und historischer Hinsicht. Eine
Verödung der Gesellschaft war die Folge.
Manche versuchen jetzt einen
neuen Gott zu erschaffen. Dieser Gott ist das Geld und der materielle
Wohlstand. Aber ich bin nicht sicher, dass das in dieser Region
tatsächlich zu einem Gott wird. Noch nie in der russischen
Geschichte spielte das Geld eine entscheidende Rolle. Das konnte man
bereits früher an den russischen Kaufleuten und Händlern sehen, die
Geld verdienen und alles in der gleichen Nacht ausgeben konnten. Das
war immer ein traditionell russischer Charakterzug. Noch nie war Geld
in Russland ein wichtiges Symbol oder gar Gott - zumindest für die
Mehrheit des Volkes.
Das liegt daran, dass das
russische Volk stärker im Spirituellen verwurzelt ist als viele
andere Völker. Das kann man am Beispiel der amerikanischen Predigern
beobachten, die jetzt zu uns kommen. Leicht konnten sie große
Menschenmengen sammeln, sie mit "Pralinen" (kostenlosen
Bibeln oder etwas ähnlichem) anlocken. Langfristig konnten sie aber
die Menschen nicht halten. Weil die Menschen bei ihnen das Wichtigste
nicht gefunden haben - die Tiefe und das Verstehen dessen, was sie
selbst sagen. Deshalb haben sie aufgehört, diese Veranstaltungen zu
besuchen. Das heißt, das ist bei den Massen nicht angekommen.
Es hat auch viele unserer
eigenen Propheten in Russland gegeben. Aber auch das ist bei den
Menschen nicht angekommen. Das bedeutet, es ist zwar möglich, das
Interesse der Menschen für etwas zu wecken, zum Beispiel durch ein
buntes Bild oder Fernsehspot, so dass sie auch ein paar
Veranstaltungen besuchen. Aber den Menschen wird sehr schnell klar,
ob sie das wirklich brauchen. Und dann lassen sie es einfach. Deshalb
ist es sehr schwierig, gerade das russische Volk mit einer Religion
zu täuschen.
Hier schaut man vor allem auf
die Persönlichkeit, auf die, die führen. Man kann die Menschen kaum
mit irgendwelchen Büchern oder Konzepten täuschen. Man durchschaut
die Führer sehr schnell: was sie selbst können oder wie tief deren
eigenes Verstehen ist.
Und wenn man Prediger sieht, die
nur wie Schauspieler im Fernsehen arbeiten, gibt es kein Vertrauen zu
ihnen.
Deshalb sind die Menschen jetzt
in so eine moralische Schieflage geraten. Ihnen ist jegliche Moral
abhandengekommen. Aber viele brauchen gerade sie, eben dieses
Fundament - die richtige Bestrebung, die richtige Richtung. Und jetzt
wissen die Menschen nicht, wohin sie gehen, wie sie zu diesen oder
jenen Dingen stehen sollen.
Früher hat man die Leute, die
ihren Lebensunterhalt nur durch den Weiterverkauf von Waren verdient
haben, Spekulanten genannt. Eine solche Beschäftigung galt als
verwerflich. Jetzt werden solche Leute hoch geschätzt, man nennt sie
Geschäftsleute oder Sponsoren. Viele Menschen sind dadurch verwirrt:
etwas im Inneren sagt ihnen, dass solche Leute nicht ehrlich und
anständig sein dürften, jedoch werden sie mit großem Respekt
behandelt.
Viele Menschen wissen inzwischen
gar nicht, wie sie zu den meisten Dingen im Leben stehen sollen.
Deswegen hat sich deren Gefühl für das Spirituelle abgestumpft. Es
ist derzeit sehr stark abgestumpft, so dass viele Menschen es
inzwischen als ganz normal empfinden, wenn beispielsweise an der
Fassade einer der angesehensten Hochschulen von Charkov ein riesiges
Aushängeschild "Fleischwaren" hängt und erst darunter -
ganz klein - "Universität so und so". Heute sieht keiner
darin etwas Schreckliches. Doch ich kann mir vorstellen, dass nur
zehn Jahre früher die Menschen empört wären, wenn sie so etwas am
Tempel der Wissenschaft gesehen hätten. Und heutzutage gehen alle
Menschen ruhig vorbei, sagend "na ja, die Uni muss ja Geld
verdienen, etwas vermieten". Aber die Moral hat sich dadurch
jetzt extrem verändert.
Daher finden die Menschen es
jetzt ganz normal, dass man hier und dort einen Sponsor finden muss -
sprich einen Menschen, der irgendwo zwar erst Geld gestohlen hat,
danach aber eine Wohltat unterstützen möchte. Was wird jedoch aus
so einer "Wohltat", die mit solchem Geld finanziert wird?
Daher all diese moralische Schieflage.
Das Entscheidende ist aber, dass
die Menschen innerlich weniger gesammelt sind als früher. In Charkov
gibt es immer weniger Menschen, die einer Arbeit nachgehen. Man hört
gänzlich auf zu arbeiten, sowohl physisch als auch mental.
Ein Unternehmer hat mir einmal
erzählt, dass er über die Aussicht, was aus unserem Staat bald
werden könnte, tief erschüttert war. Wenn jetzt alle aufhörten zu
arbeiten, würde es bald entweder Krieg oder eine unermessliche
Katastrophe geben. Weil er mit Entsetzen festgestellt hat, dass
inzwischen kaum einer richtig arbeitet - weder die Jüngeren, noch
die Unterschicht, auch nicht die Führungsschicht. Dass jetzt alle
bloß aus einer Gewohnheit heraus leben, in dem Versuch irgendeinen
Rhythmus im Leben aufrechtzuerhalten.
Und insbesondere merken die
Menschen das nicht, weil alle so leben. Heutzutage leistet man
entweder Schwerstarbeit oder schlägt die Zeit tot durch etwas
anderes. Danach kommt die "Freizeit", wo man sich einfach
mit vollem Bauch auf das Sofa legen kann und so die Zeit
verschwendet. Das heißt, die Menschen haben weder ein richtige
Verständnis von Arbeit noch von Freizeit.
Deswegen hören die Menschen
auf, das Leben zu fühlen - dass man einen guten und interessanten
Job haben kann und dass man seine Freizeit nützlich gestalten kann.
Und wenn alle um sie herum so leben, beginnen die Menschen das als
normal zu sehen.
So begreifen sie auch nicht,
warum man im Westen so viel Geld verdient - weil man dort viel
arbeiten muss. Manche meinen: "Ich gehe nicht in den Westen,
weil ich es nicht schaffe werde, da zu arbeiten. Ich werde da nichts
machen können".
Die Menschen haben die
Gewohnheit verloren zu arbeiten. Sie haben dieses alltägliche
Gesammeltsein verloren - das Gesammeltsein darin, dass man täglich
arbeitet. Ohne zu differenzieren, was leicht und was schwer ist. Ohne
daran zu denken, ob man gleich heute etwas dafür bekommt. Dieses
Gesammeltsein ist verlorengegangen.
Und nur dann, wenn in einem
Menschen das Gesammeltsein vorliegt, wird er irgendwelche Ergebnisse
verwirklichen können.
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